Ausgangslage
Bei den entwicklungsbedingten Einschränkungen von Kindern handelt es sich u. a. um Einschränkungen bei visuellen Fähigkeiten wie z. B. dem Einschätzen von Geschwindigkeiten oder um Einschränkungen bei motorischen, emotionalen oder sozialen Kompetenzen wie z. B. der Selbstregulation. Ein bedeutender Teil der entwicklungsbedingten Einschränkungen betrifft kognitive Fähigkeiten. Dazu gehören u. a. Ablenkbarkeit, Gefahrenantizipation, Steuerung der Wahrnehmung und exekutive Funktionen [1].
Für eine sichere Verkehrsteilnahme ist das Zusammenspiel mehrerer Kompetenzen erforderlich, nicht nur das Vorhandensein einer einzelnen Kompetenz. Während grundlegende sensorische und motorische Fähigkeiten bei Kindern früh entwickelt sind, reifen kognitive Funktionen, die für Aufmerksamkeit und Informationsverarbeitung wichtig sind, erst später aus [2].
Insbesondere höhere kognitive Funktionen wie die exekutiven Funktionen, die verschiedene Prozesse koordinieren und eine flexible, kontrollierte Handlungssteuerung ermöglichen, entwickeln sich über einen langen Zeitraum – bis ins junge Erwachsenenalter [1]. Im Jugendalter finden zudem körperliche, psychische und soziale Veränderungen statt, die riskantes Verhalten begünstigen können [3].
Verbreitung
Ein deutsches Forschungsteam geht davon aus, dass die notwendigen Fähigkeiten für eine sichere und selbstständige Verkehrsteilnahme erst ab 14 Jahren ausreichend entwickelt sind [4]. Allerdings finden sich auch noch über dieses Alter hinaus entwicklungsbedingte Einschränkungen, beispielsweise in der Impulskontrolle. Mit Beginn der Pubertät muss insbesondere bei den Knaben mit einer ansteigenden Tendenz zu riskantem Verhalten gerechnet werden [3,5,6].
Somit ist davon auszugehen, dass entwicklungsbedingte Einschränkungen mit Auswirkungen auf eine sichere Verkehrsteilnahme alle Kinder betreffen. Je jünger die Kinder sind, desto mehr Einschränkungen weisen sie noch auf [2]. Es gilt jedoch zu beachten, dass die jüngsten Kinder mit den grössten entwicklungsbedingten Einschränkungen eher selten unbegleitet im Strassenverkehr unterwegs sind und deshalb nicht zwingend häufiger verunfallen.
Gefährlichkeit
Entwicklungsbedingte Einschränkungen bei Kindern führen dazu, dass sie die komplexen Anforderungen der Verkehrsteilnahme nicht vollständig erfüllen können. Sie haben z. B. Schwierigkeiten, Gefahren rechtzeitig zu erkennen und angemessen zu reagieren.
Ablenkbarkeit und eine nicht ausgereifte Impulskontrolle können bewirken, dass Kinder unerwartetes Verhalten zeigen und gefährliche Situationen hervorrufen. All dies erhöht ihr Unfallrisiko. Bei älteren Kindern bzw. Jugendlichen kann auch eine erhöhte Risikoneigung zu riskanterem Verhalten und einem erhöhten Unfallrisiko führen [6].
Unfallrelevanz
Aus der Verkehrsunfallstatistik lässt sich nicht eindeutig schliessen, wie häufig entwicklungsbedingte Einschränkungen zu einem Unfall geführt haben. Diese Einschränkungen können nicht nur dazu führen, dass Kinder einen Unfall verursachen, sondern auch dazu, dass sie eine drohende Gefahr nicht rechtzeitig antizipieren und verhindern können.
Geht man davon aus, dass alle schweren Personenschäden von Kindern, die aktiv zu Fuss oder als Lenkende eines Fahrzeugs unterwegs waren und den Unfall selbst verursachten, auf entwicklungsbedingte Einschränkungen zurückzuführen sind, entspricht dies 52 % aller schweren Personenschäden von Kindern bis 14 Jahre (Ø 2019–2023).
Es ist jedoch anzunehmen, dass nicht alle diese Unfälle auf entwicklungsbedingte Einschränkungen zurückzuführen sind. Angesichts der grossen Verbreitung und der hohen Gefährlichkeit von entwicklungsbedingten Einschränkungen bei Kindern ist dennoch von einer grossen Unfallrelevanz auszugehen.
Quellen
[1] Schlag B, Richter S, Buchholz K, Gehlert T. Ganzheitliche Verkehrserziehung für Kinder und Jugendliche: Teil 1: Wissenschaftliche Grundlagen. Berlin: Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. GDV; 2018. Forschungsbericht GDV Nr. 50.
[2] Uhr A. Entwicklungspsychologische Grundlagen: Überblick und Bedeutung für die Verkehrssicherheit. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2015. bfu-Grundlagen.
[3] Uhr A, Ewert U, Niemann S et al. Sicherheit von Jugendlichen im Strassenverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2018. Sicherheitsdossier Nr. 17. DOI:10.13100/bfu.2.336.01.
[4] Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. GDV. Grundlagen der kindlichen Verkehrspädagogik. Berlin: Unfallforschung der Versicherer UDV; 2018. Unfallforschung kompakt Nr. 79.
[5] Hertach P, Uhr A, Ewert U et al. Sicherheit von jungen Erwachsenen im Strassenverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2019. Sicherheitsdossier Nr. 18. DOI:10.13100/bfu.2.349.01.
[6] Uhr A, Allenbach R, Ewert U et al. Sicherheit von Kindern im Strassenverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2017. Sicherheitsdossier Nr. 16. DOI:10.13100/bfu.2.280.01.