Ausgangslage
Schwere Velounfälle passieren oft, weil andere Verkehrsteilnehmende den Vortritt der Velofahrerinnen und Velofahrer missachten. Manchmal missachten aber auch die Velofahrenden selbst den Vortritt. In 80 % der Fälle sind sie es, die bei der darauf folgenden Kollision schwer oder tödlich verletzt werden. Manchmal sind auch andere Zweiradfahrende oder Fussgängerinnen und Fussgänger betroffen. Im Folgenden geht es um die Selbstgefährdung der Velofahrenden durch eigene Vortrittsmissachtungen.
Bei den von Velofahrenden begangenen Vortrittsmissachtungen kann es sich um Vortrittsmissachtungen in Situationen mit Signalisation (z. B. «Kein Vortritt») oder ohne Signalisation (z. B. Rechtsvortritt) handeln. Auch das Nichtgewähren des Vortritts bei Fussgängerstreifen gehört dazu.
Die genauen Ursachen dieser Vortrittsmissachtungen sind in der Verkehrsunfallstatistik nicht direkt ersichtlich. Aus einer Sekundäranalyse von deutschen GIDAS-Daten (German In-Depth Accident Study) lässt sich aber ableiten, dass visuelle Wahrnehmungsfehler wie Übersehen oder falsche Aufmerksamkeitsausrichtung eine wichtige Ursache darstellen [1]. Weitere mögliche Ursachen sind z. B. Wissensdefizite, bewusste Regelmissachtungen, infrastrukturelle Probleme oder Überforderung mit der Verkehrssituation [2].
Verbreitung
Wie oft Velofahrende den Vortritt missachten, lässt sich kaum abzuschätzen. Vortrittsmissachtungen können absichtlich oder unabsichtlich erfolgen. Letztere werden möglicherweise auch im Nachhinein nicht immer bemerkt.
In der Bevölkerungsbefragung 2023 der BFU wurden die teilnehmenden Velo- und E-Bike-Fahrerinnen und -Fahrer unter anderem gefragt, wie oft sie fahren, obwohl sie keinen Vortritt haben. 63 % gaben an, dass dies nie vorkommt. Bei 26 % kommt dies selten vor, bei 6 % gelegentlich und bei 2 % oft [3]. Es ist anzunehmen, dass sich diese Angaben auf bewusst begangene oder zumindest im Nachhinein bemerkte Vortrittsmissachtungen beziehen.
Drei Viertel der schweren Personenschäden von Velofahrenden, die auf eine eigene Vortrittsmissachtung zurückzuführen sind, ereignen sich innerorts. Die häufigste Unfallstelle ist die Verzweigung (Kreuzungen und Einmündungen) mit 68 %, gefolgt von der geraden Strecke mit 22 %.
Insgesamt handelt es sich bei den Vortrittsmissachtungen der Velofahrerinnen und Velofahrer am häufigsten um Missachten des Signals «Kein Vortritt» (27 %), gefolgt vom Missachten des Rechtsvortritts (21 %) (Unfalldaten: Ø 2019–2023).
Unfälle von Kindern und Jugendlichen sind häufiger auf eigene Vortrittsmissachtungen zurückzuführen als Unfälle von Erwachsenen: Bei den 0- bis 14-jährigen Velofahrenden geschehen 15 % der schweren Personenschäden wegen eigener Vortrittsmissachtungen, bei den 15- bis 17-Jährigen sind es 12 %. Bei den 25- bis 64-Jährigen sind es dagegen nur 3 bis 4 %.
Gefährlichkeit
Wie häufig eine Vortrittsmissachtung letztlich zu einem Unfall führt, kann mangels entsprechender Studien nicht beantwortet werden. Es hängt vermutlich auch davon ab, ob die Vortrittsmissachtung bewusst und kontrolliert oder unbeabsichtigt erfolgt.
Internationale Studien haben jedoch gezeigt, dass Vortrittsmissachtungen zu den folgenschwersten Ursachen bei selbstverschuldeten Kollisionen von Velofahrenden mit Motorfahrzeugen gehören. Im Vergleich zu anderen Kollisionsursachen seitens der Velofahrenden sind Vortrittsmissachtungen mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für schwere oder tödliche Verletzungen verbunden [4,5]. In der Schweizer Unfallstatistik zeigt sich dies nur in Bezug auf die tödlichen, aber nicht auf die schweren Verletzungen.
Unfallrelevanz
Gemäss Verkehrsunfallstatistik sind 5 % aller schweren Velounfälle hauptsächlich auf Vortrittsmissachtungen durch Velofahrende selbst zurückzuführen (Ø 2019–2023). Werden auch die Unfälle berücksichtigt, bei denen Vortrittsmissachtungen durch Velofahrende eine Mitursache waren, liegt der Anteil bei gut 6 %.
Selbst begangene Vortrittsmissachtungen haben somit eine eher geringe Unfallrelevanz im Unfallgeschehen des Veloverkehrs. Sie sind auch deutlich seltener die Hauptursache für schwere Velounfälle als Vortrittsmissachtungen durch andere Verkehrsteilnehmende – diese sind für 19 % aller schweren Personenschäden von Velofahrenden verantwortlich.
Hinweise
Zu beachten ist, dass es in der offiziellen Verkehrsunfallstatistik bei Velounfällen eine hohe Dunkelziffer gibt, insbesondere bei Alleinunfällen und Unfällen mit leichten Verletzungsfolgen. Dies erschwert verallgemeinerbare Aussagen auf Grundlage dieser Statistik.
Quellen
[1] Platho C, Paulenz A, Kolrep H. Wahrnehmungspsychologische Analyse der Radfahraufgabe. Bremen: Fachverlag NW in der Carl Schünemann Verlag GmbH; 2016. Berichte der Bundesanstalt für Strassenwesen BASt, Mensch und Sicherheit M 267.
[2] Walter E, Achermann Stürmer Y, Scaramuzza G et al. Fahrradverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2012. Sicherheitsdossier Nr. 08.
[3] BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung. BFU-Bevölkerungsbefragung 2023: Jährlich wiederkehrende Befragung der Schweizer Wohnbevölkerung zu Themen im Bereich der Nichtberufsunfälle [Unveröffentlichter Bericht]. Bern: BFU; 2023.
[4] Liu J, Jones S, Adanu EK, Li X. Behavioral pathways in bicycle-motor vehicle crashes: From contributing factors, pre-crash actions, to injury severities. Journal of safety research. 2021; 77: 229–240. DOI:10.1016/j.jsr.2021.02.015.
[5] Bíl M, Bílová M, Müller I. Critical factors in fatal collisions of adult cyclists with automobiles. Accid Anal Prev. 2010; 42(6): 1632–1636. DOI:10.1016/j.aap.2010.04.001.