Ausgangslage
Schwere E-Bike-Unfälle passieren relativ häufig, weil andere Verkehrsteilnehmende den Vortritt der E-Bike-Fahrerinnen und -Fahrer missachten. Manchmal missachten aber auch die E-Bike-Fahrenden selbst den Vortritt.
In fast 90 % der Fälle sind sie es, die bei der darauf folgenden Kollision schwer oder tödlich verletzt werden. Manchmal sind auch andere Zweiradfahrende oder Fussgängerinnen und Fussgänger betroffen. Im Folgenden geht es um die Selbstgefährdung der E-Bike-Fahrenden durch eigene Vortrittsmissachtungen.
Bei von E-Bike-Fahrenden begangenen Vortrittsmissachtungen kann es sich um Vortrittsmissachtungen in Situationen mit Signalisation (z. B. «Kein Vortritt») oder ohne Signalisation (z. B. Rechtsvortritt) handeln. Auch das Nichtgewähren des Vortritts bei Fussgängerstreifen gehört dazu.
Die genauen Ursachen dieser Vortrittsmissachtungen sind in der Verkehrsunfallstatistik nicht direkt ersichtlich. Aus einer Sekundäranalyse von deutschen GIDAS-Daten (German In-Depth Accident Study) zu Velounfällen lässt sich aber ableiten, dass visuelle Wahrnehmungsfehler wie Übersehen oder falsche Aufmerksamkeitsausrichtung eine wichtige Ursache darstellen [1]. Weitere mögliche Ursachen sind z. B. Wissensdefizite, bewusste Regelmissachtungen, infrastrukturelle Probleme oder Überforderung mit der Verkehrssituation [2].
Verbreitung
Wie oft E-Bike-Fahrende den Vortritt missachten, lässt sich kaum abzuschätzen. Vortrittsmissachtungen können absichtlich oder unabsichtlich erfolgen. Letztere werden möglicherweise auch im Nachhinein nicht immer bemerkt.
In der Bevölkerungsbefragung 2023 der BFU wurden die teilnehmenden Velo- und E-Bike-Fahrerinnen und -Fahrer unter anderem gefragt, wie oft sie mit dem Velo oder E-Bike fahren, obwohl sie keinen Vortritt haben. 63 % gaben an, dass dies bei ihnen nie vorkommt. Bei 26 % der Befragten kommt dies selten vor, bei 6 % gelegentlich und bei 2 % oft [3]. Es ist anzunehmen, dass sich diese Angaben auf bewusst begangene oder zumindest im Nachhinein bemerkte Vortrittsmissachtungen beziehen.
60 % der schweren Personenschäden von E-Bike-Fahrenden, die auf eine eigene Vortrittsmissachtung zurückzuführen sind, ereignen sich innerorts. Die häufigste Unfallstelle ist die Verzweigung (Kreuzungen und Einmündungen) mit 60 %, gefolgt von der geraden Strecke mit 32 %.
Insgesamt handelt es sich bei den Vortrittsmissachtungen der E-Bike-Fahrerinnen und E-Bike-Fahrer am häufigsten um Missachten des Signals «Kein Vortritt» (33 %), gefolgt vom Missachten des Rechtsvortritts (20 %) (Unfalldaten: Ø 2019–2023).
Gefährlichkeit
Wie häufig eine Vortrittsmissachtung letztlich zu einem Unfall führt, kann mangels entsprechender Studien nicht beantwortet werden. Dies hängt vermutlich auch davon ab, ob die Vortrittsmissachtung bewusst und kontrolliert oder unbeabsichtigt erfolgt.
Aus der Schweizer Unfallstatistik lässt sich jedoch ableiten, dass Vortrittsmissachtungen bei selbstverschuldeten Kollisionen von E-Bike-Fahrenden zu den folgenschwersten Ursachen gehören: Im Vergleich zu anderen Kollisionsursachen seitens der E-Bike-Fahrenden ist das Sterberisiko bei Vortrittsmissachtungen mehr als doppelt so hoch.
Unfallrelevanz
Gemäss Verkehrsunfallstatistik sind 5 % aller schweren E-Bike-Unfälle hauptursächlich auf Vortrittsmissachtungen durch E-Bike-Fahrende selbst zurückzuführen (Ø 2019–2023). Werden auch die Unfälle berücksichtigt, bei denen Vortrittsmissachtungen durch E-Bike-Fahrende eine Mitursache waren, liegt der Anteil bei knapp 6 %.
Selbst begangene Vortrittsmissachtungen haben somit eine eher geringe Unfallrelevanz im Unfallgeschehen der E-Bike-Fahrenden. Sie sind auch deutlich seltener die Hauptursache für schwere E-Bike-Unfälle als Vortrittsmissachtungen durch andere Verkehrsteilnehmende, die für 14 % aller schweren Personenschäden von E-Bike-Fahrenden verantwortlich sind.
Hinweise
Zu beachten ist, dass es in der offiziellen Verkehrsunfallstatistik bei E-Bike-Unfällen eine hohe Dunkelziffer gibt, insbesondere bei Alleinunfällen und Unfällen mit leichten Verletzungsfolgen. Dies erschwert verallgemeinerbare Aussagen auf Grundlage dieser Statistik.
Quellen
[1] Platho C, Paulenz A, Kolrep H. Wahrnehmungspsychologische Analyse der Radfahraufgabe. Bremen: Fachverlag NW in der Carl Schünemann Verlag GmbH; 2016. Berichte der Bundesanstalt für Strassenwesen BASt, Mensch und Sicherheit M 267.
[2] Walter E, Achermann Stürmer Y, Scaramuzza G et al. Fahrradverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2012. Sicherheitsdossier Nr. 08.
[3] BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung. BFU-Bevölkerungsbefragung 2023: Jährlich wiederkehrende Befragung der Schweizer Wohnbevölkerung zu Themen im Bereich der Nichtberufsunfälle [Unveröffentlichter Bericht]. Bern: BFU; 2023.
[4] Liu J, Jones S, Adanu EK, Li X. Behavioral pathways in bicycle-motor vehicle crashes: From contributing factors, pre-crash actions, to injury severities. Journal of safety research. 2021; 77: 229–240. DOI:10.1016/j.jsr.2021.02.015.
[5] Bíl M, Bílová M, Müller I. Critical factors in fatal collisions of adult cyclists with automobiles. Accid Anal Prev. 2010; 42(6): 1632–1636. DOI:10.1016/j.aap.2010.04.001.