Ausgangslage
Verkehrsunfälle werden häufig durch Ablenkung und Unaufmerksamkeit verursacht. Ablenkung wird durch äussere Reize wie z. B. Handynutzung, Musikhören oder Gespräche mit anderen Personen ausgelöst und führt zu einer Verlagerung der Aufmerksamkeit weg von der Fahraufgabe. Unaufmerksamkeit hingegen umfasst die innere, selbst erzeugte Ablenkung wie zum Beispiel abschweifende Gedanken oder Tagträume.
Die verschiedenen Formen der Ablenkung tragen zu einem erhöhten Unfallrisiko bei. Ablenkung und Unaufmerksamkeit stellen für alle Altersgruppen ein relevantes Sicherheitsrisiko dar, wobei sich die Verhaltensmuster je nach Alter unterscheiden.
Verbreitung
Daten zur Verbreitung von Ablenkung und Unaufmerksamkeit liegen nur für einzelne Ablenkungsarten vor. Es gibt keine Daten darüber, wie häufig Verkehrsteilnehmende im Strassenverkehr in Gedanken versunken oder unaufmerksam sind. Dies ist generell schwierig abzuschätzen, da es weder beobachtbar noch zuverlässig erfragbar ist.
Gemäss drei Beobachtungsstudien der BFU waren im Jahr 2023 in der Schweiz 18 % der Personenwagen- und Lieferwagenlenkenden ab 60 Jahren, 7 % der Velo- und E-Bike-Fahrenden und 27 % der Fussgängerinnen und Fussgänger in dieser Altersgruppe während der Fahrt bzw. beim Überqueren der Strasse abgelenkt [1–3]. In allen drei Gruppen wird die Ablenkung hauptsächlich durch die Interaktion mit anderen Verkehrsteilnehmenden oder Fahrzeuginsassen verursacht. In allen Gruppen ist der Anteil der abgelenkten Personen bei älteren Personen geringer als bei jüngeren.
Der Alterseffekt spiegelt sich auch in der Bevölkerungsbefragung der BFU wider: So gaben ältere Lenkende von Personenwagen (PW) im Jahr 2022 deutlich weniger häufig ablenkende Tätigkeiten an als jüngere [4]. Während beispielsweise rund 72 % der befragten 18- bis 24-jährigen PW-Lenkenden angaben, während der Fahrt zumindest ab und zu ein Navigationsgerät zu bedienen, waren es bei den 65- bis 74-Jährigen 39 %.
Ein weiteres Beispiel ist das Musikhören bei Velo- und E-Bike-Fahrenden: Im Jahr 2023 gaben 74 % der 18- bis 24-Jährigen an, zumindest ab und zu während der Fahrt Musik zu hören. Bei den 65- bis 74-Jährigen waren es 8 % [5].
Auch bei den Fussgängerinnen und Fussgängern zeigt sich ein Alterseffekt, insbesondere beim Schreiben oder Lesen auf dem Mobiltelefon während des Gehens. Im Jahr 2022 lagen die Anteile bei den 18- bis 24-Jährigen bei 94 %, bei den 65- bis 74-Jährigen bei 32 % [4].
Auch eine in den USA durchgeführte «Naturalistic Driving Study» (NDS, siehe Hinweis 1), an der rund 3500 PW-Lenkende im Alter von 16 bis 98 Jahren teilnahmen, zeigt, dass ältere Lenkende seltener abgelenkt fahren als jüngere. Während Personen ab 65 Jahren in 40 % der untersuchten Zeitsegmente zumindest zeitweise abgelenkt waren, waren es bei den 21- bis 29-Jährigen 57 %. In allen Altersgruppen waren Interaktionen mit Passagierinnen und Passagieren die häufigste Form der Ablenkung [6].
Gefährlichkeit
Unaufmerksamkeit und Ablenkung können dazu führen, dass die für eine sichere Teilnahme am Strassenverkehr erforderlichen visuellen, auditiven, kognitiven und motorischen Ressourcen nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Dies wirkt sich negativ auf die Verkehrssicherheit aus [7]. Die Forschung hat sich bisher vor allem mit der Ablenkung beschäftigt. Dies liegt daran, dass Unaufmerksamkeit nicht zuverlässig erfasst werden kann.
Die «Naturalistic Driving Study» in den USA zeigt: Abgelenktes Fahren generell erhöht das Unfallrisiko um etwa das Doppelte [8].
Unter den ablenkenden Tätigkeiten stellen diejenigen, bei denen die lenkende Person den Blick von der Fahrbahn abwenden muss, das höchste Risiko dar, z. B. das Wählen einer Nummer auf dem Mobiltelefon (Odds Ratio 12,2, s. Hinweis 2). Die Interaktion mit Passagieren ist mit einem deutlich geringeren Risiko verbunden (Odds Ratio 1,4) [7,8].
Einige ablenkende Tätigkeiten erhöhen das Unfallrisiko bei älteren Lenkenden deutlich stärker als bei jüngeren. Dabei handelt es sich um Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Mobiltelefon: allgemein Aktivitäten mit visuellen und manuellen Aufgaben (OR 24,5), darunter das Wählen einer Nummer (OR 81,5) oder das Schreiben einer Nachricht (OR 24,8) [6].
Zu einem deutlichen Anstieg des Unfallrisikos bei älteren Lenkenden kommt es auch, wenn sie nach draussen schauen (OR 7,9) oder im Auto nach anderen Dingen greifen (OR 9,2). Bei diesen beiden Arten der Ablenkung ist der Effekt bei älteren Lenkenden nicht wesentlich höher als bei den jüngeren Altersgruppen [6].
Unfallrelevanz
In den Jahren 2019 bis 2023 waren gemäss Unfallstatistik bei 10 % der schweren Personenschäden von Seniorinnen und Senioren (siehe Hinweis 3) deren Ablenkung und Unaufmerksamkeit die Hauptursache. Dabei handelte es sich mehrheitlich um eine momentane Unaufmerksamkeit (77 %).
Hinweise
Zur Ermittlung der Verbreitung von Regelverstössen bzw. Ablenkungsverhalten werden idealerweise Beobachtungsstudien oder «Naturalistic Driving Studies» (NDS) herangezogen. Diese Studien gelten als objektiv, weshalb ihnen die höchste Aussagekraft zugeschrieben wird. Bei NDS wird unter anderem das Fahrverhalten über einen bestimmten Zeitraum mit verschiedenen On-Board-Kameras aufgezeichnet. So kann abgeschätzt werden, wie häufig verschiedene Verhaltensweisen unter «normalen» Bedingungen (ohne Unfall) auftreten (in Prozent der Fahrzeit). Die Verhaltensweisen werden sehr detailliert erfasst.
Die Odds Ratio (OR) gibt an, um wie viel sich die Chance (Englisch: odds) für das Eintreten eines Ereignisses durch einen Einflussfaktor verändert. Zur Berechnung werden in einem ersten Schritt die Odds für ein Ereignis bei Vorhandensein des Einflussfaktors und die Odds für ein Ereignis bei Nichtvorhandensein des Einflussfaktors berechnet. «Odds» sind definiert als das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis eintritt, zu der Wahrscheinlichkeit, dass es nicht eintritt. Diese beiden Odds werden dann zueinander ins Verhältnis gesetzt (Odds Ratio). Wie das Relative Risiko kann auch die Odds Ratio einen Wert zwischen 0 und unendlich annehmen. Auch hier weist eine OR > 1 auf einen positiven Zusammenhang hin [7].
Mit Seniorinnen und Senioren sind hier Personen ab 65 Jahren gemeint, die als Fahrzeuglenkende oder zu Fuss unterwegs waren. Mitfahrende, z. B. in Personenwagen, sind hier nicht eingeschlossen.
Quellen
[1] Niemann S, Hertach P. Erhebungen 2023: Ablenkung im Strassenverkehr: Autolenkerinnen und Autolenker. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2023. DOI:10.13100/bfu.2.517.01.2023.
[2] Niemann S, Hertach P. Erhebungen 2023: Ablenkung im Strassenverkehr: Velo- und E-Bike-Fahrende. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2023. DOI:10.13100/bfu.2.518.01.2023.
[3] Niemann S, Hertach P. Erhebungen 2023: Ablenkung im Strassenverkehr: Fussgängerinnen und Fussgänger. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2023. DOI:10.13100/bfu.2.516.01.2023.
[4] BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung. BFU-Bevölkerungsbefragung 2022: Jährlich wiederkehrende Befragung der Schweizer Wohnbevölkerung zu Themen im Bereich der Nichtberufsunfälle. Bern: BFU; 2022.
[5] BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung. BFU-Bevölkerungsbefragung 2023: Jährlich wiederkehrende Befragung der Schweizer Wohnbevölkerung zu Themen im Bereich der Nichtberufsunfälle. Bern: BFU; 2023.
[6] Guo F, Klauer SG, Fang Y et al. The effects of age on crash risk associated with driver distraction. Int J Epidemiol. 2017; 46(1): 258–265. DOI:10.1093/ije/dyw234.
[7] Hertach P, Uhr A, Niemann S et al. Beeinträchtigte Fahrfähigkeit von Motorfahrzeuglenkenden. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2020. Sicherheitsdossier 2.361. DOI:10.13100/BFU.2.361.01.
[8] Dingus TA, Guo F, Lee S et al. Driver crash risk factors and prevalence evaluation using naturalistic driving data. Proc Natl Acad Sci U S A. 2016; 113(10): 2636–2641. DOI:10.1073/pnas.1513271113.