Ausgangslage
Ablenkung und Unaufmerksamkeit gehören zu den häufigsten Unfallursachen im Strassenverkehr. Dies gilt auch für den Veloverkehr. Unter Ablenkung wird im Folgenden die Verschiebung der Aufmerksamkeit von der Fahraufgabe zu fahrfremden Tätigkeiten, Objekten oder Ereignissen verstanden. Sie wird durch Ablenkungsquellen ausserhalb der Person ausgelöst, zum Beispiel durch das Handy, Musik oder andere Personen. Unaufmerksamkeit (im engeren Sinne) umfasst dagegen die innere bzw. selbst erzeugte Ablenkung wie z. B. abschweifende Gedanken oder Tagträume.
Verbreitung
Angaben zur Verbreitung von Ablenkung und Unaufmerksamkeit bei Velofahrenden liegen nur für gewisse Arten der Ablenkung vor. Darüber, wie häufig Velofahrerinnen und Velofahrer während der Fahrt in Gedanken versunken resp. unaufmerksam sind, liegen gar keine Daten vor. Dies ist generell schwer abzuschätzen, da dies weder beobachtbar ist noch zuverlässig erfragt werden kann.
Gemäss einer Beobachtungsstudie der BFU ist ein Fünftel der Velofahrenden in der Schweiz während der Fahrt abgelenkt, hauptsächlich durch Interaktion mit anderen Personen oder durch das Tragen von Kopfhörern (je 9 %). Handybenützung zum Telefonieren oder Lesen/Schreiben kommt mit etwa 1 % deutlich seltener vor [1].
In der BFU-Bevölkerungsbefragung gaben jeweils rund 15 % der Velo- und E-Bike-Fahrerinnen und -Fahrer an, zumindest selten während der Fahrt mit dem Handy in der Hand zu telefonieren bzw. darauf zu lesen/schreiben. 9 % hören oft Musik, 10 % gelegentlich und 11 % selten [2]. Beide Erhebungen zeigen, dass die Ablenkungsquote mit steigendem Alter der Velofahrenden abnimmt.
Gefährlichkeit
Die Forschung hat sich bisher vor allem mit der Ablenkung beim Velofahren befasst, insbesondere durch Handys. Experimentelle und Beobachtungsstudien zeigen, dass die Handynutzung je nach Art der Nutzung zu verschiedenen sicherheitsrelevanten Beeinträchtigungen führen kann oder damit assoziiert ist, zum Beispiel [3]:
Fahrverhalten
Die manuelle Bedienung des Telefons beeinträchtigt die Querführung (z. B. kurviges und wackeliges Fahren).
Visuelle Wahrnehmung
Beim Schreiben von Nachrichten sind die visuelle Wahrnehmung und die periphere Sicht eingeschränkt. Dies beeinflusst das Situationsbewusstsein negativ.
Auditive Wahrnehmung
Telefonieren beeinträchtigt die auditive Wahrnehmung, z. B. von relevanten Umgebungsgeräuschen (z. B. Motorengeräusche).
Riskantes Verhalten
In Beobachtungsstudien zeigten Velofahrende, die ein Handy nutzten oder Musik hörten, im Vergleich zu nicht abgelenkten Velofahrenden häufiger regelwidriges oder riskantes Verhalten wie z. B. unvorsichtiges Verhalten an Kreuzungen, Fahren in falscher Richtung oder bei Rot.
Bezüglich Musikhören wurde kein Einfluss auf die Querführung oder die visuelle Wahrnehmung nachgewiesen. Beeinträchtigungen finden sich jedoch bei der auditiven Wahrnehmung von Umgebungsgeräuschen, zumindest wenn zweiseitige Kopfhörer verwendet werden [3].
Inwieweit die Handynutzung und das Hören von Musik während der Velofahrt das Unfallrisiko tatsächlich erhöhen, kann noch nicht abschliessend beurteilt werden. Dies liegt u. a. daran, dass experimentelle Studien eine begrenzte Realitätsnähe haben und Beobachtungsstudien i. d. R. keine Kausalität nachweisen können. Velofahrende berichten, dass sie die Handynutzung während der Fahrt kompensieren, indem sie z. B. Telefongespräche kurz halten und dem Verkehr durch häufigeres Umherschauen mehr Aufmerksamkeit schenken. Letzteres konnte in Beobachtungsstudien jedoch nicht bestätigt werden. Hingegen wurde beobachtet, dass Velofahrende während des Handygebrauchs die Geschwindigkeit reduzieren [3].
Auch wenn eine abschliessende Beurteilung noch fehlt, ist aufgrund der vorliegenden Informationen von einem erhöhten Risiko für Velofahrten unter Ablenkung auszugehen [3]. Weiter ist anzunehmen, dass insbesondere jene Tätigkeiten riskant sind, bei denen der Blick von der Strasse abgewendet wird und die zusätzlich motorische Ressourcen beanspruchen (visuell-manuelle Ablenkung, z. B. Schreiben einer Nachricht auf dem Handy) [4].
Zur Gefährlichkeit von Unaufmerksamkeit beim Velofahren scheint es keine Studien zu geben. Aber auch hierzu ist anzunehmen, dass sie sich negativ auf die Verkehrssicherheit auswirkt. Die Gefährlichkeit dürfte aber geringer sein als jene von Ablenkungsarten, die visuelle und manuelle Ressourcen beanspruchen.
Unfallrelevanz
Ablenkung und Unaufmerksamkeit gehören gemäss Polizeistatistik zu den häufigsten Ursachen bei schweren Velounfällen. Insgesamt wird bei 17 % aller schweren Personenschäden bei Velofahrenden deren Ablenkung oder Unaufmerksamkeit als (Mit-)Ursache des Unfalls angesehen (Ø 2019–2023). In zwei Dritteln dieser Fälle handelt es sich um eine «momentane Unaufmerksamkeit». Die Ablenkung durch Bedienung des Telefons sowie durch elektronische Geräte wird fast nie als (Mit-)Ursache des Unfalls registriert (< 0,5 %). In der Polizeistatistik dürfte die Häufigkeit der Unaufmerksamkeit überschätzt, jene der Handynutzung unterschätzt werden.
Sind die Velofahrenden Hauptverursachende ihres Unfalls, so wird dieser in 17 % der Fälle auf Ablenkung oder Unaufmerksamkeit zurückgeführt. Bei 81 % dieser Unfälle handelt es sich um Alleinunfälle.
Zwischen den Geschlechtern gibt es keine Unterschiede in der Registrierungshäufigkeit dieser (Mit-)Ursache. Bei Kindern, Jugendlichen sowie Seniorinnen und Senioren wird sie häufiger registriert als bei jungen Erwachsenen und Personen mittleren Alters (19–23 % vs. 12–17 %).
Hinweise
Die Erkenntnisse im Unterkapitel «Gefährlichkeit» stammen aus der Literaturarbeit von Hertach (2017) [3]. Die Originalquellen der erwähnten Befunde können dieser Literaturarbeit entnommen werden.
Zu beachten ist, dass es in der offiziellen Verkehrsunfallstatistik bei Velounfällen eine hohe Dunkelziffer gibt, insbesondere bei Alleinunfällen und Unfällen mit leichten Verletzungsfolgen. Dies erschwert verallgemeinerbare Aussagen auf Grundlage dieser Statistik.
Quellen
[1] Niemann S, Hertach P. Erhebungen 2023: Ablenkung im Strassenverkehr: Velo- und E-Bike-Fahrende. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2023. DOI:10.13100/bfu.2.518.01.2023.
[2] BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung. BFU-Bevölkerungsbefragung 2023: Jährlich wiederkehrende Befragung der Schweizer Wohnbevölkerung zu Themen im Bereich der Nichtberufsunfälle [Unveröffentlichter Bericht]. Bern: BFU; 2023.
[3] Hertach P. Kurzanalyse Gefahren durch die Handynutzung im Langsamverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2017. BFU-Faktenblatt Nr. 19. DOI:10.13100/bfu.2.289.01.
[4] Hertach P, Uhr A, Niemann S et al. Beeinträchtigte Fahrfähigkeit von Motorfahrzeuglenkenden. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2020. Sicherheitsdossier 2.361. DOI:10.13100/BFU.2.361.01.