Ausgangslage
Die Gründe für Vortrittsmissachtungen sind aus der Verkehrsunfallstatistik nicht direkt ersichtlich. Studien deuten darauf hin, dass die fehlbaren Lenkerinnen und Lenker von Personenwagen (PW) z. B. Fussgängerinnen und Fussgänger häufig übersehen oder zu spät wahrnehmen [1–5] oder den Fussgängervortritt auf Fussgängerstreifen teilweise bewusst missachten [5].
Unfälle durch Vortrittsmissachtung sind häufig auf Wahrnehmungsdefizite zurückzuführen. Diese Defizite können verschiedene Ursachen haben, die auch zusammenwirken können:
- Infrastrukturmängel bei Querungsstellen
- Hohe Komplexität der Verkehrssituation
- Menschliche Leistungsgrenzen bei der Informationsaufnahme und -verarbeitung
- Fehleinschätzungen
- Falsche Erwartungen (z. B. an Fussgängerstreifen, an denen normalerweise nur wenige Personen queren)
- Falsche Blickstrategien
- Ungünstige Verhaltensweisen (z. B. Ablenkung)
- Eingeschränkte momentane Leistungsfähigkeit (z. B. Alkohol)
Bei Seniorinnen und Senioren am Steuer dürften entwicklungsbedingte Defizite in der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung eine grössere Rolle spielen als bei jüngeren PW-Lenkenden. Die Tatsache, dass Fussgängerinnen und Fussgänger, Motorrad-, Velo- sowie E-Trottinett-Fahrende im Vergleich zu Personenwagen eine deutlich schmalere Silhouette aufweisen, trägt dazu bei, dass sie eher übersehen werden [2,4,5].
Verbreitung
Die Häufigkeit von Vortrittsmissachtungen durch Personenwagenlenkende gegenüber anderen Verkehrsteilnehmenden ist mangels objektiver Daten schwer abzuschätzen. Betreffend Vortrittsmissachtung gegenüber Fussgängerinnen und Fussgängern legt eine ältere, aber repräsentative Beobachtungsstudie der BFU nahe, dass die Anhaltequote von Fahrzeuglenkenden an Fussgängerstreifen deutlich zu tief ist: Nur rund die Hälfte aller Fahrzeuglenkenden gewährte den Fussgängerinnen und Fussgängern Vortritt [6].
Eine neuere, allerdings weniger umfangreiche und daher nicht repräsentative Untersuchung ergab deutlich höhere Anhaltequoten an Fussgängerstreifen: Im Durchschnitt wurden die Verkehrsregeln in 88 % der Fälle eingehalten. Vortrittsmissachtungen erfolgen in 9 % der Fälle durch Personenwagen [7].
In der Bevölkerungsbefragung 2023 gab die Hälfte der befragten Autolenkerinnen und Autolenker an, mindestens ab und zu einer am Fussgängerstreifen wartenden Person den Vortritt nicht zu gewähren [6].
Aufgrund der Unfallstatistik ist davon auszugehen, dass Lenkende von Personenwagen häufig den Vortritt missachten: Bei den von PW-Lenkenden verursachten Unfällen entfällt der grösste Anteil auf Vortrittsmissachtungen (38 %).
Gefährlichkeit
Wie häufig Vortrittsmissachtungen durch Lenkende von Personenwagen letztlich zu einem Unfall führen, kann mangels entsprechender Studien nicht beantwortet werden. Insgesamt ist aber aufgrund der hohen Unfallrelevanz davon auszugehen, dass Vortrittsmissachtungen mit einem erhöhten Kollisionsrisiko einhergehen.
Gemäss der Unfallstatistik werden 17 % der Kollisionsgegner von vortrittsmissachtenden PW-Lenkenden schwer oder tödlich verletzt. 83 % werden leicht verletzt (Ø 2019–2023). Am gefährlichsten sind solche Unfälle für Fussgängerinnen und Motorradfahrer.
Unfallrelevanz
Die Unfallrelevanz von Vortrittsmissachtungen bei PW-Lenkenden ist hoch. Zwischen 2019 und 2023 verloren pro Jahr durchschnittlich 18 Verkehrsteilnehmende im Schweizer Strassenverkehr deshalb ihr Leben. Weitere 613 wurden schwer verletzt. Das sind 17 % aller Unfälle mit Getöteten bzw. 40 % aller Unfälle mit Schwerverletzten, bei denen Lenkende von Personenwagen Hauptverursachende waren.
Werden Vortrittsmissachtungen als Mitursache registriert, kommen durchschnittlich zwei Getötete und 36 Schwerverletzte hinzu.
In 90 % der Fälle sind die schwer verletzten oder getöteten Unfallopfer nicht die PW-Lenkenden selbst, sondern andere Unfallbeteiligte. Mit 31 % sind dies vor allem Motorradfahrende. An zweiter Stelle folgen mit 27 % Fussgängerinnen und Fussgänger. Velofahrende sind in 21 % und E-Bike-Fahrende in knapp 10 % der Fälle betroffen.
Werden die Schwerverletzten und Getöteten nach verschiedenen Kategorien von Vortrittsmissachtungen getrennt ausgewiesen, sind die drei Kategorien «Missachten des Vortrittssignals Kein Vortritt» (31 %), «Nichtgewähren des Vortritts bei Fussgängerstreifen» (23 %) und «Missachten des Vortritts beim Linksabbiegen vor Gegenverkehr» (20 %) die am häufigsten registrierten Ursachen.
Vortrittsmissachtungen mit Personenschäden bei anderen Verkehrsteilnehmenden durch vortrittmissachtende Lenkende von Personenwagen geschehen am häufigsten innerorts (79 %), davon 30 % auf Fussgängerstreifen.
Quellen
[1] Räsänen M, Summala H. Attention and expectation problems in bicycle–car collisions: An in-depth study. Accid Anal Prev. 1998; 30(5): 657–666. DOI:10.1016/S0001-4575(98)00007-4.
[2] Uhr A. Verkehrssicherheit von Velos und E-Bikes im Kreisel. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2022. Forschung 2.463. DOI:10.13100/BFU.2.463.01.2022.
[3] Walter E, Cavegn M, Ewert U et al. Motorradverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2014. Sicherheitsdossier Nr. 12.
[4] Walter E, Achermann Stürmer Y, Scaramuzza G et al. Fahrradverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2012. Sicherheitsdossier Nr. 08.
[5] Walter E, Achermann Stürmer Y, Scaramuzza G et al. Fussverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2013. Sicherheitsdossier Nr. 11.
[6] BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung. BFU-Bevölkerungsbefragung 2023: Jährlich wiederkehrende Befragung der Schweizer Wohnbevölkerung zu Themen im Bereich der Nichtberufsunfälle [Unveröffentlichter Bericht]. Bern: BFU; 2023.