Ausgangslage
Vortrittsmissachtungen sind die häufigste polizeilich registrierte Hauptursache bei schweren Verkehrsunfällen in der Schweiz. Sie werden mehrheitlich von Lenkerinnen und Lenkern von Personenwagen (PW) verursacht, aber vor allem Zweiradfahrende sowie Fussgängerinnen und Fussgänger werden dabei schwer oder tödlich verletzt.
Die genauen Gründe für Vortrittsmissachtungen sind aus der Verkehrsunfallstatistik nicht direkt ersichtlich. Studien weisen darauf hin, dass die fehlbaren Motorfahrzeuglenkenden Zweiradfahrende sowie Fussgängerinnen und Fussgänger häufig übersehen oder zu spät wahrnehmen [1–6].
Laut einer Online-Befragung von rund 2700 Personen ab 15 Jahren in Österreich im Jahr 2023 waren mehr als die Hälfte (53 %) der Teilnehmenden der Meinung, dass Vortrittsmissachtungen eher unbewusst erfolgen [6].
Als häufigste Gründe für das Missachten des Vortritts durch andere Verkehrsteilnehmende wurden Unaufmerksamkeit oder Ablenkung (46 %) sowie Rücksichtslosigkeit (42 %) genannt. Auch Zeitdruck oder Stress (34 %), der Wunsch, schnell voranzukommen (32 %), Unkenntnis der Vortrittsregeln (28 %) und das Nichterkennen der Verkehrssituation (26 %) wurden als relevante Gründe für Vortrittsmissachtungen angesehen.
Gemäss einer Studie, die auf Unfalldaten von jungen Motorfahrzeuglenkenden bis 34 Jahre aus dem US-Bundesstaat Louisiana basiert, gehören Vortrittsmissachtungen zu den drei häufigsten von der Polizei erfassten Regelverstössen junger Lenkender [7]. Die Autoren vermuten, dass diese Vortrittsmissachtungen auf mangelnde Fahrpraxis und unbeabsichtigtes Risikoverhalten zurückzuführen sind. Die Studie zeigt auch, dass die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls durch Vortrittsmissachtung bei jungen Erwachsenen im Alter von 20 bis 24 Jahren um 33 % höher ist als bei erfahrenen Lenkenden im Alter von 25 bis 34 Jahren.
Verbreitung
Für die Schweiz liegen keine umfassenden Analysen zur Häufigkeit von Vortrittsmissachtungen vor. Einige Angaben dazu finden sich in der jährlichen, repräsentativen Bevölkerungsbefragung der BFU [8,9]. Es ist davon auszugehen, dass sich diese Angaben nur auf bewusst begangene oder zumindest im Nachhinein wahrgenommene Vortrittsmissachtungen beziehen.
Im Jahr 2023 gaben 53 % der 18- bis 24-jährigen Autofahrenden an, zumindest ab und zu einer am Fussgängerstreifen wartenden Person nicht den Vortritt zu gewähren. Bei den 25- bis 64-Jährigen sind es 51 % und bei den 65- bis 74-Jährigen 41 %. Nur sehr wenige geben an, dieses Verhalten häufig zu zeigen (jeweils 2 % in diesen Altersgruppen) [9].
Rund ein Drittel der Velo- und E-Bike-Fahrenden gibt an, ab und zu die Vortrittsregeln zu missachten. Dieses Verhalten kommt bei den 18- bis 24-Jährigen (29 %) und den 25- bis 64-Jährigen (36 %) häufiger vor als bei den über 65-Jährigen (20 %) [9].
Die Angaben beruhen auf Selbstauskünften der Befragten. Es ist daher nicht auszuschliessen, dass einige Befragte die Häufigkeit ihres problematischen Verhaltens etwas untertrieben haben (sog. sozial erwünschtes Antwortverhalten). Da die Befragung online durchgeführt wurde, dürfte dieser Effekt jedoch nicht sehr gross sein.
Gefährlichkeit
Wie häufig Vortrittsmissachtungen zu Unfällen führen, lässt sich aufgrund der schlechten Datenlage nur schwer abschätzen. Aufgrund der hohen Unfallrelevanz ist aber davon auszugehen, dass sie nicht selten sind.
Im Rahmen einer «Naturalistic Driving Study» (NDS, siehe Hinweis 1) wurde das Unfallrisiko in verschiedenen Situationen, in denen der Vortritt missachtet wurde, im Vergleich zu einer vorbildlichen Fahrweise abgeschätzt [10]. Beispielsweise wurde für den relativ häufigen Fahrfehler «Missachten der Vortrittssignale ‹Stopp› oder ‹Kein Vortritt› » eine Gefährlichkeit mit einer Odds Ratio (s. Hinweis 2) von 7,4 ermittelt. Das bedeutet, dass das Unfallrisiko bei Missachtung dieser Vortrittssignale gegenübervorbildlichem Fahrverhalten um mehr als den Faktor 7 erhöht ist.
Für weitere Verhaltensweisen, die als «Vortrittsfehler» klassifiziert, aber nur sehr selten beobachtet wurden, ergab die Studie eine extrem hohe Odds Ratio von 936. Diese Ergebnisse zeigen, dass die Gefährlichkeit von Vortrittsmissachtungen sehr hoch sein kann.
Unfallrelevanz
Vortrittsmissachtungen sind die häufigste Hauptursache für schwere Verkehrsunfälle in der Schweiz: In den Jahren 2019 bis 2023 waren 22 % der schweren Personenschäden darauf zurückzuführen. Bei den 18- bis 24-Jährigen lag dieser Anteil mit 18 % etwas tiefer [11]. Der Anteil der schweren Unfälle aufgrund von Vortrittsmissachtung war bei den 18- bis 24-jährigen Frauen mit 26 % deutlich höher als bei den gleichaltrigen Männern (15 %).
Unter den Personen, die von der Polizei als Hauptverursachende schwerer Unfälle durch Vorfahrtsmissachtung eingestuft werden, sind die 18- bis 24-Jährigen überproportional vertreten. Sie machen 10 % der Hauptverursacherinnen und Hauptverursacher solcher Unfälle aus, während ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung 7 % beträgt. Frauen im Alter von 18 bis 24 Jahren machen 12 % aller Hauptverursachenden schwerer Unfälle durch Vorfahrtsmissachtung aus. Im Vergleich dazu liegt der Anteil der Männer in dieser Altersgruppe bei 9 %.
Hinweise
Zur Ermittlung der Verbreitung von Regelverstössen werden idealerweise Beobachtungsstudien oder «Naturalistic Driving Studies» (NDS) herangezogen. Diese Studien gelten als objektiv und daher wird ihnen die höchste Aussagekraft zugeschrieben. Bei NDS wird u. a. das Fahrverhalten über einen gewissen Zeitraum mit verschiedenen On-Board-Kameras aufgezeichnet. So kann abgeschätzt werden, wie häufig verschiedene Verhaltensweisen unter «normalen» Bedingungen (ohne Unfall) auftreten (in Prozent der Fahrzeit). Die Verhaltensweisen werden sehr detailliert erfasst.
Die Odds Ratio (OR) gibt an, um wie viel sich die Chance (Englisch: odds) für das Eintreten eines Ereignisses durch einen Einflussfaktor verändert. Zur Berechnung werden in einem ersten Schritt die Odds für ein Ereignis bei Vorhandensein des Einflussfaktors und die Odds für ein Ereignis bei Nichtvorhandensein des Einflussfaktors berechnet. «Odds» sind definiert als das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis eintritt, zu der Wahrscheinlichkeit, dass es nicht eintritt. Diese beiden Odds werden dann zueinander ins Verhältnis gesetzt (Odds Ratio). Wie das Relative Risiko kann auch die Odds Ratio einen Wert zwischen 0 und unendlich annehmen. Auch hier weist eine OR > 1 auf einen positiven Zusammenhang hin [12].
Quellen
[1] Räsänen M, Summala H. Attention and expectation problems in bicycle–car collisions: An in-depth study. Accid Anal Prev. 1998; 30(5): 657–666. DOI:10.1016/S0001-4575(98)00007-4.
[2] Uhr A. Verkehrssicherheit von Velos und E-Bikes im Kreisel. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2022. Forschung 2.463. DOI:10.13100/BFU.2.463.01.2022.
[3] Walter E, Achermann Stürmer Y, Scaramuzza G et al. Fahrradverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2012. Sicherheitsdossier Nr. 08.
[4] Walter E, Cavegn M, Ewert U et al. Motorradverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2014. Sicherheitsdossier Nr. 12.
[5] Walter E, Achermann Stürmer Y, Scaramuzza G et al. Fussverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2013. Sicherheitsdossier Nr. 11.
[6] Mellauner M, Kaiser S, Fleischer M et al. Vorrangverletzungen im Strassenverkehr - Unfallgeschehen, Verbreitung und Einflussfaktoren in Österreich - KFV. Sicher leben. Band 42.
[7] Rahman MA, Hossain MM, Mitran E, Sun X. Understanding the contributing factors to young driver crashes: A comparison of crash profiles of three age groups. Transportation Engineering. 2021; 5: 100076. DOI:10.1016/j.treng.2021.100076.
[8] BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung. BFU-Bevölkerungsbefragung 2022: Jährlich wiederkehrende Befragung der Schweizer Wohnbevölkerung zu Themen im Bereich der Nichtberufsunfälle. Bern: BFU; 2022
[9] BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung. BFU-Bevölkerungsbefragung 2023: Jährlich wiederkehrende Befragung der Schweizer Wohnbevölkerung zu Themen im Bereich der Nichtberufsunfälle. Bern: BFU; 2023.
[10] Dingus TA, Guo F, Lee S et al. Driver crash risk factors and prevalence evaluation using naturalistic driving data. Proc Natl Acad Sci U S A. 2016; 113(10): 2636–2641. DOI:10.1073/pnas.1513271113.
[11] Hertach P, Uhr A, Achermann Stürmer Y et al. Sinus 2024: Sicherheitsniveau und Unfallgeschehen im Strassenverkehr 2023. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2024. DOI:10.13100/bfu.2.536.01.2024.
[12] Hertach P, Uhr A, Niemann S et al. Beeinträchtigte Fahrfähigkeit von Motorfahrzeuglenkenden. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2020. Sicherheitsdossier 2.361. DOI:10.13100/BFU.2.361.01.