Ausgangslage
Vortrittsmissachtungen sind die häufigste polizeilich registrierte Hauptursache bei schweren Verkehrsunfällen in der Schweiz. Sie können in verschiedenen Verkehrssituationen vorkommen, z. B. beim Queren einer Strasse, bei Fussgängerstreifen oder beim Linksabbiegen an einer Kreuzung. Manchmal ist der Vortritt signalisiert (z. B. «Kein Vortritt»), manchmal nicht (z. B. Rechtsvortritt).
Die genauen Ursachen von Vortrittsmissachtungen sind in der Verkehrsunfallstatistik nicht direkt ersichtlich. Studien deuten darauf hin, dass bei Vortrittsmissachtungen, bei denen Velo- oder Motorradfahrende die Leidtragenden sind, die fehlbaren Motorfahrzeuglenkenden die Velo- oder Motorradfahrenden häufig übersehen oder zu spät wahrnehmen.
Manchmal wird auch deren Geschwindigkeit unterschätzt [1–4]. Auch Vortrittsmissachtungen am Fussgängerstreifen dürften öfters auf das Übersehen von Fussgängerinnen und Fussgängern zurückzuführen sein. Es wird zudem vermutet, dass Fahrzeuglenkende den Fussgängervortritt teilweise bewusst missachten [5].
Die häufigen Wahrnehmungsfehler können wiederum auf Mängel in der Infrastruktur (z. B. ungenügende Sichtweiten an Knoten oder inadäquate Veloverkehrsführung) oder auf eine zu hohe Komplexität der Verkehrssituation zurückzuführen sein.
Menschliche Leistungsgrenzen, Fehleinschätzungen und ungünstige Verhaltensweisen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Autofahrende übersehen Velo- oder Motorradfahrende beispielsweise, weil diese aufgrund der schmalen Silhouette generell eher unauffällig sind. Manchmal wenden sie aber auch falsche Blickstrategien an, rechnen zu wenig mit Velos und Motorrädern oder sind in der spezifischen Situation visuell oder kognitiv überfordert [2–5].
Verbreitung
Für die Schweiz liegen keine umfassenden Analysen zur Häufigkeit von Vortrittsmissachtungen vor. Einige Angaben dazu finden sich in der Bevölkerungsbefragung der BFU [6]. Es ist davon auszugehen, dass sich diese Angaben nur auf bewusst begangene oder zumindest im Nachhinein wahrgenommene Vortrittsmissachtungen beziehen.
Im Jahr 2023 gaben 41 % der Autofahrenden ab 65 Jahren an, zumindest ab und zu einer am Fussgängerstreifen wartenden Person den Vortritt nicht zu gewähren. Bei den jüngeren Lenkenden von Personenwagen (PW) war dieser Anteil höher. Nur sehr wenige gaben an, dies oft zu tun (2 % der Befragten ab 65 Jahren).
20 % der älteren Velo- und E-Bike-Fahrenden gaben an, zumindest ab und zu ohne Vortritt zu fahren. Auch dieses Verhalten kommt bei den jüngeren Befragten häufiger vor [6].
Allerdings beruhen diese Angaben auf Selbstauskünften der Befragten. Es ist daher nicht auszuschliessen, dass einige Befragte die Häufigkeit ihres problematischen Verhaltens etwas untertrieben haben (sog. sozial erwünschtes Antwortverhalten). Da die Befragung online durchgeführt wurde, dürfte dieser Effekt jedoch nicht sehr gross sein.
Objektive Daten werden durch Beobachtungsstudien oder sogenannte «Naturalistic Driving Studies» (NDS, siehe Hinweis 1) gewonnen. Im Rahmen einer NDS in den USA wurden die Fahrdaten von rund 3500 Motorfahrzeuglenkenden im Alter von 16 bis 98 Jahren erfasst [7].
Dazu gehören verschiedene Arten von Vorfahrtsmissachtungen. Das Fehlverhalten «Missachten der Vortrittssignale ‹Stopp› oder ‹Kein Vortritt› » kam bei etwa 1 % aller Fahrten vor. Andere Verhaltensweisen, die als «Vortrittsfehler» klassifiziert wurden, traten in weniger als einem Prozent der Fahrten auf [7]. Diese Angaben beziehen sich auf alle Studienteilnehmenden; wie häufig diese Vortrittsmissachtungen bei älteren PW-Lenkenden vorkommen, wird nicht beschrieben.
Gefährlichkeit
Wie häufig Vortrittsmissachtungen zu Unfällen führen, lässt sich aufgrund der schlechten Datenlage nur schwer abschätzen. Aufgrund der hohen Unfallrelevanz ist aber davon auszugehen, dass dies nicht selten der Fall ist.
In der bereits erwähnten NDS aus den USA wurde das Unfallrisiko für verschiedene Arten von Vortrittsmissachtungen im Vergleich zu einer vorbildlichen Fahrweise abgeschätzt [7]. Für den relativ häufigen Fahrfehler «Missachten der Signale ‹Stopp› oder ‹Kein Vortritt› » wurde eine Odds Ratio (s. Hinweis 2) von 7,4 ermittelt. Das bedeutet, dass das Unfallrisiko bei Missachtung dieser Vortrittssignale im Vergleich zu vorbildlichem Fahrverhalten um mehr als den Faktor 7 erhöht ist.
Für weitere Verhaltensweisen, die als «Vortrittsfehler» klassifiziert wurden, ergab die Studie eine sehr hohe Odds Ratio von 936. Dieses Verhalten wurde jedoch äusserst selten festgestellt, weshalb die Odds Ratio mit einer grossen Unsicherheit behaftet ist.
Diese Angaben beziehen sich auf alle Studienteilnehmenden; wie hoch das Unfallrisiko bei älteren PW-Lenkenden ist, wurde nicht berichtet.
Unfallrelevanz
Rund 6 % der schweren Personenschäden bei Seniorinnen und Senioren (siehe Hinweis 3) sind darauf zurückzuführen, dass sie den Vortritt missachtet haben (Hauptursache). Am häufigsten wird dabei das Signal «Kein Vortritt» missachtet. Damit ist die Vortrittsmissachtung nach Unaufmerksamkeit und Ablenkung die zweithäufigste Unfallursache in dieser Altersgruppe. Zum Vergleich: Vortrittsmissachtungen der Kollisionsgegner sind für rund 19 % der schweren Personenschäden der älteren Personen verantwortlich.
Hinweise
- Zur Ermittlung der Verbreitung von Regelverstössen werden idealerweise Beobachtungsstudien oder «Naturalistic Driving Studies» (NDS) herangezogen. In den NDS wird u. a. das Fahrverhalten über einen gewissen Zeitraum mit verschiedenen On-Board-Kameras aufgezeichnet. Es kann somit abgeschätzt werden, wie häufig verschiedene Verhaltensweisen auftreten (in Prozent der Fahrzeit).
- Die Odds Ratio (OR) gibt an, um wie viel sich die Chance (Englisch: odds) für das Eintreten eines Ereignisses durch einen Einflussfaktor verändert. Zur Berechnung werden in einem ersten Schritt die Odds für ein Ereignis bei Vorhandensein des Einflussfaktors und die Odds für ein Ereignis bei Nichtvorhandensein des Einflussfaktors berechnet. «Odds» sind definiert als das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis eintritt, zu der Wahrscheinlichkeit, dass es nicht eintritt. Diese beiden Odds werden dann zueinander ins Verhältnis gesetzt (Odds Ratio). Wie das Relative Risiko kann auch die Odds Ratio einen Wert zwischen 0 und unendlich annehmen. Auch hier weist eine OR > 1 auf einen positiven Zusammenhang hin [8].
- Mit Seniorinnen und Senioren sind hier Personen ab 65 Jahren gemeint, die als Fahrzeuglenkende oder zu Fuss verunfallt sind. Mitfahrende (z. B. in Personenwagen) sind in diesen Analysen nicht eingeschlossen.
Quellen
[1] Räsänen M, Summala H. Attention and expectation problems in bicycle-car collisions: An in-depth study. Accid Anal Prev. 1998; 30(5): 657–666. DOI:10.1016/S0001-4575(98)00007-4.
[2] Uhr A. Verkehrssicherheit von Velos und E-Bikes im Kreisel. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2022. Forschung 2.463. DOI:10.13100/BFU.2.463.01.2022.
[3] Walter E, Achermann Stürmer Y, Scaramuzza G et al. Fahrradverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2012. Sicherheitsdossier Nr. 08.
[4] Walter E, Cavegn M, Ewert U et al. Motorradverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2014. Sicherheitsdossier Nr. 12.
[5] Walter E, Achermann Stürmer Y, Scaramuzza G et al. Fussverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2013. Sicherheitsdossier Nr. 11.
[6] BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung. BFU-Bevölkerungsbefragung 2023: Jährlich wiederkehrende Befragung der Schweizer Wohnbevölkerung zu Themen im Bereich der Nichtberufsunfälle. Bern: BFU; 2023.
[7] Dingus TA, Guo F, Lee S et al. Driver crash risk factors and prevalence evaluation using naturalistic driving data. Proc Natl Acad Sci U S A. 2016; 113(10): 2636–2641. DOI:10.1073/pnas.1513271113.
[8] Hertach P, Uhr A, Niemann S et al. Beeinträchtigte Fahrfähigkeit von Motorfahrzeuglenkenden. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2020. Sicherheitsdossier 2.361. DOI:10.13100/BFU.2.361.01.