Ausgangslage
Verkehrssituationen, mit denen Kinder im Strassenverkehr konfrontiert werden, können in ihrem Anspruchsniveau stark variieren. Die Komplexität einer Verkehrssituation ergibt sich aus dem Zusammenspiel verschiedener baulicher, betrieblicher und menschlicher Faktoren.
Zu einer hohen Komplexität tragen Merkmale wie mehrspurige Strassen, fehlende Querungshilfen oder Sichthindernisse bei. Ebenso spielen betriebliche Faktoren wie hohes Verkehrsaufkommen und Geschwindigkeiten eine bedeutende Rolle.
Diese Herausforderungen werden durch die entwicklungsbedingten Einschränkungen der Kinder noch verstärkt. Dazu gehört ihre geringe Körpergrösse, die es ihnen erschwert, Hindernisse wie parkierte Autos oder Hecken zu überblicken. Sie haben noch Schwierigkeiten, Geschwindigkeiten und Distanzen richtig einzuschätzen und sichere Querungsstellen zu erkennen. Ihre begrenzte Fähigkeit, mehrere Informationen gleichzeitig zu verarbeiten, erschwert es ihnen, komplexe Verkehrssituationen richtig zu erfassen. Zudem handeln Kinder oft impulsiv, lassen sich leicht ablenken und haben noch wenig Erfahrung mit unterschiedlichen Verkehrssituationen [1,2].
All diese Schwierigkeiten tragen dazu bei, dass Kinder oft Schwierigkeiten haben, komplexe Verkehrssituationen sicher zu bewältigen. Für jüngere Kinder gilt dies umso mehr, da ihre Fähigkeiten und Kompetenzen noch weniger weit entwickelt sind als bei älteren Kindern. Aber auch ältere Kinder haben noch entwicklungsbedingte Schwierigkeiten bei der sicheren Verkehrsteilnahme [3]. Zudem werden ihre Verkehrswege länger und anspruchsvoller, und sie sind häufiger mit dem Velo oder Mofa unterwegs. Dadurch werden auch sie immer wieder mit zu komplexen Situationen konfrontiert.
Verbreitung
Eine Abschätzung der Verbreitung von (zu) komplexen Situationen, in denen sich Kinder bewegen, setzt eine flächendeckende Inventarisierung der Infrastrukturelemente und der lokal vorherrschenden betrieblichen Faktoren (z. B. Kenntnis der Verkehrsdichte) voraus. Diese Informationen liegen heute nicht oder nur unvollständig vor. Auch aus der amtlichen Unfallstatistik lässt sich kein umfassendes Bild des Komplexitätsniveaus ableiten.
Theoretisch ist jedoch davon auszugehen, dass aufgrund von zunehmender Verkehrsdichte und neuen Mobilitätsformen die Komplexität für Kinder im Strassenverkehr tendenziell zunimmt, auch wenn gezielte Massnahmen zur Vereinfachung wie z. B. verkehrsberuhigte Zonen oder der Bau von Mittelinseln bei Fussgängerstreifen oder anderen Querungshilfen bereits umgesetzt werden.
Gefährlichkeit
Es gibt derzeit keine Studien, die eine quantitative und verlässliche Aussage über die generelle Gefährlichkeit der Komplexität der Strassenverkehrsinfrastruktur für die Sicherheit von Kindern erlauben. Untersuchungen zu einzelnen Infrastrukturkomponenten geben aber Hinweise darauf, dass die Komplexität einen grossen Einfluss auf das Unfallrisiko von Kindern hat. Es folgen einige Erkenntnisse aus älteren Studien zu Fussgängerunfällen von Kindern (siehe [1]):
- Die Strassenklassifikation, die sowohl ein Hinweis auf das Verkehrsaufkommen und die baulichen Anforderungen als auch auf die Anzahl Fahrspuren sein kann, ist ein Prädiktor für ein erhöhtes Risiko für schwere Verletzungen von Kindern. Hauptstrassen sind dreimal gefährlicher als Nebenstrassen.
- Mehrere Fahrspuren bergen ein grösseres Risiko: Auf Strassen mit mehr als zwei Spuren ist das Risiko 2,1-mal höher als auf Strassen mit zwei oder weniger Spuren. Es überrascht daher nicht, dass das Risiko, schwer verletzt zu werden, auf der dritten und vierten Fahrspur deutlich höher ist als auf den ersten beiden Spuren (4,2-mal höheres Risiko).
- Ein hohes Verkehrsaufkommen geht mit einem höheren Unfallrisiko einher. Auf Strassen mit mehr als 750 Fahrzeugen pro Stunde ist das Unfallrisiko 13-mal höher als auf Strassen mit weniger als 250 Fahrzeugen pro Stunde.
- Visuelle Hindernisse am Strassenrand stellen eine erhebliche Gefahr für Kinder zu Fuss dar. Das können parkierte Autos, Abfallcontainer, Pfosten, Masten oder Werbeständer sein, hinter denen Kinder verborgen sein können. Solche Sichthindernisse erschweren es den Autofahrerinnen und Autofahrern, rechtzeitig zu reagieren. Das Vorhandensein solcher Hindernisse ist mit einem 2,7-fach erhöhten Unfallrisiko für zu Fuss gehende Kinder verbunden.
Unfallrelevanz
Die Komplexität der Verkehrsinfrastruktur stellt für Kinder ein hohes Risiko dar, insbesondere wenn sie aktiv am Strassenverkehr teilnehmen, d. h. zu Fuss oder als Lenkerinnen und Lenker von Fahrzeugen. Jährlich ereignen sich auf Schweizer Strassen 148 schwere Personenschäden bei Kindern im Alter von 0 bis 14 Jahren, die aktiv am Strassenverkehr teilnehmen (Ø 2019–2023) [4]. Dies entspricht 86 % aller schweren Personenschäden von Kindern; die restlichen 14 % betreffen Kinder, die als Mitfahrende unterwegs sind.
Von den als aktive Verkehrsteilnehmende verunfallten Kindern sind die meisten zu Fuss unterwegs (37 %), gefolgt vom Velo (32 %), von fahrzeugähnlichen Geräten (18 %) und Mofas (9 %). Die Hälfte der Unfälle betrifft Kinder ab 11 Jahren. Folgende Situationen sind bei schweren Unfällen von Kindern am häufigsten:
- Fast 90 % der schweren Unfälle von Kindern ereignen sich innerorts, davon ¾ an Stellen mit einer Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h.
- ⅔ der Unfälle von Kindern zu Fuss und mit fäG passieren beim Queren einer Strasse, davon 46 % auf und 54 % abseits von Fussgängerstreifen. Von den Unfällen auf Fussgängerstreifen ereignen sich 85 % auf Fussgängerstreifen ohne Mittelinsel.
- Bei den schweren Velounfällen handelt es sich zu 52 % um Schleuder-/Selbstunfälle und zu 46 % um Kollisionen mit anderen Verkehrsteilnehmenden. Kollisionen ereignen sich verhältnismässig häufig an Verzweigungen (40 %). Nur 6 % aller schweren Velounfälle ereignen sich auf einer spezifischen Veloinfrastruktur.
Eine eindeutige quantitative Aussage zur Unfallrelevanz von komplexen Verkehrssituationen lässt sich weder aus Studien noch aus dem Unfallgeschehen ableiten. Es ist jedoch davon auszugehen: Je anspruchsvoller die Verkehrssituation aufgrund der baulichen, gestalterischen und betrieblichen Strasseninfrastruktur ist, desto grösser ist auch das Potenzial für Konfliktsituationen und Unfälle. Dies liegt zum einen daran, dass durch die komplexe Gestaltung der Infrastruktur generell mehr Konfliktpunkte entstehen und zum anderen daran, dass auch das Anspruchsniveau an die Kinder, diese Situationen zu bewältigen, steigt.
Hinweise
Es ist zu beachten, dass die individuelle Wahrnehmung der Komplexität der Strassenverkehrsinfrastruktur von der generellen kognitiven Leistungsfähigkeit und dem aktuellen Leistungszustand (z. B. Müdigkeit oder Konzentrationsmängel) des Einzelnen abhängt und stark variieren kann.
Quellen
[1] Uhr A, Allenbach R, Ewert U et al. Sicherheit von Kindern im Strassenverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2017. Sicherheitsdossier Nr. 16. DOI:10.13100/bfu.2.280.01.
[2] Degener S, Marthaler K, Schürch B et al. Schulweg: Leitfaden für Schulwegplanung. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2023. Fachdokumentation 2.365.
[3] Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. GDV. Grundlagen der kindlichen Verkehrspädagogik. Berlin: Unfallforschung der Versicherer UDV; 2018. Unfallforschung kompakt Nr. 79.
[4] Bundesamt für Strassen ASTRA. Polizeilich registrierte Strassenverkehrsunfälle: [Unveröffentlichte Datenbank]. Ittigen: ASTRA; 2024.