Ausgangslage
Vortrittsmissachtungen durch andere Verkehrsteilnehmende – zumeist Motorfahrzeuglenkende – sind ein bedeutender Risikofaktor für schwere Verkehrsunfälle von Kindern. Die meisten betroffenen Kinder waren aktiv im Strassenverkehr unterwegs, d. h. zu Fuss oder als Lenker oder Lenkerin eines Fahrzeugs. Einzelne Kinder waren Mitfahrende, z. B. im Auto oder auf einem Zweirad.
Vortrittsmissachtungen gegenüber Kindern ereignen sich häufig an Fussgängerstreifen. Aber auch andere Vortrittsmissachtungen kommen vor, z. B. «Nichtgewähren des Vortritts über Trottoir (Trottoirüberfahrt)» oder Missachten des Signals «Kein Vortritt».
Die genauen Ursachen von Vortrittsmissachtungen sind in der Verkehrsunfallstatistik nicht eindeutig festgehalten. Studien deuten darauf hin, dass die fehlbaren Motorfahrzeuglenkenden die Fussgängerinnen oder Velofahrer oft übersehen oder zu spät wahrnehmen [1–5]. An Fussgängerstreifen wird der Vortritt vermutlich auch ab und zu bewusst missachtet [5].
Die Wahrnehmungsfehler der Motorfahrzeuglenkerinnen und -lenker wiederum können verschiedene Gründe haben, z. B. infrastrukturelle Mängel wie defizitäre Querungsstellen oder eine zu hohe Komplexität der Verkehrssituation. Menschliche Leistungsgrenzen, Fehleinschätzungen und ungünstige Verhaltensweisen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle.
Autofahrerinnen übersehen Fussgänger und Velofahrerinnen beispielsweise, weil diese generell eher klein und unauffällig sind, insbesondere auch im Vergleich zu Motorfahrzeugen. Bei Kindern verschärft sich dies Problematik zusätzlich. Sie werden aufgrund ihrer geringen Körpergrösse besonders leicht übersehen. Manchmal wenden Motorfahrzeuglenkende auch falsche Blickstrategien an oder rechnen zu wenig mit Velofahrenden oder Fussgängern. Letzteres passiert an Fussgängerstreifen noch vermehrt, wenn dort normalerweise nur wenige Personen queren [2,3,5].
Verbreitung
Wie häufig Kindern der Vortritt genommen wird, ist mangels objektiver Daten schwer abzuschätzen. In Bezug auf velofahrende Kinder konnten gar keine Daten gefunden werden. Zur Anhaltequote an Fussgängerstreifen liegen einzelne, teilweise ältere Daten vor, die alle Altersgruppen von Fussgängern umfassen: 1998 wurde repräsentativ für die Schweiz eine Anhaltequote von durchschnittlich 50 % festgestellt [6]. Zwei kleinere, nicht repräsentative Studien fanden je nach Standort Anhaltequoten von 65 % bis 99 % [7,8]. Deutlich erhöht war die Anhaltequote vor allem an Orten mit Mittelinseln. Das Alter der Wartenden spielte dagegen kaum eine Rolle [7].
Aufgrund der Unfallstatistik ist davon auszugehen, dass Kindern zu Fuss oder mit dem Velo relativ häufig der Vortritt genommen wird. Fast alle (94 %) schweren Personenschäden von Kindern, die auf Vortrittsmissachtungen zurückzuführen sind, ereignen sich innerorts. Folgende Arten von Vortrittsmissachtung sind am häufigsten:
- Nichtgewähren des Vortritts bei Fussgängerstreifen (64 %)
- Nichtgewähren des Vortritts über Trottoir (Trottoirüberfahrt) (10 %)
- Missachten des Vortrittssignals «Kein Vortritt» (9 %)
Verantwortlich für schwere Unfälle von Kindern durch Vortrittsmissachtung sind fast immer Lenkerinnen und Lenker von Motorfahrzeugen: ¾ sind Lenkende von Personenwagen, 13 % Lenkende von Lieferwagen und 6 % Lenkende von schweren Motorfahrzeugen (Ø 2018–2022).
Gefährlichkeit
Wie häufig eine Vortrittsmissachtung gegenüber einem Kind letztlich zu einem Unfall führt, kann mangels entsprechender Studien nicht beantwortet werden. Insgesamt ist aber aufgrund der hohen Unfallrelevanz davon auszugehen, dass Vortrittsmissachtungen öfters zu Kollisionen führen.
Die schwerwiegendsten Folgen haben Vortrittsmissachtungen bei Kindern, die zu Fuss oder mit fahrzeugähnlichen Geräten (fäG) unterwegs sind: Von allen Kindern, die aufgrund von Vortrittsmissachtungen durch andere Verkehrsteilnehmende in der Unfallstatistik erfasst wurden, wurden 15 % schwer oder tödlich verletzt (und 85 % leicht verletzt), wenn sie zu Fuss oder mit fäG – zum Beispiel einem Trottinett – unterwegs waren. Über alle Arten der Verkehrsteilnahme hinweg liegt dieser Anteil bei 11 %. Bei Kindern, die mit Velos oder E-Bikes unterwegs waren, beträgt der Anteil 8 % (Ø 2018–2022).
Unfallrelevanz
Vortrittsmissachtungen durch andere Verkehrsteilnehmende haben eine hohe Unfallrelevanz für schwere Unfälle von Kindern: 18 % aller schweren Personenschäden von Kindern bis 14 Jahre sind auf diese Hauptursache zurückzuführen (Ø 2018–2022). Die meisten Kinder, die durch Vortrittsmissachtungen anderer Verkehrsteilnehmender schwer verunfallt sind, waren aktiv im Strassenverkehr unterwegs, hauptsächlich zu Fuss (52 %), mit fäG (24 %) oder mit dem Velo (14 %).
Quellen
[1] Räsänen M, Summala H. Attention and expectation problems in bicycle–car collisions: An in-depth study. Accid Anal Prev. 1998; 30(5): 657–666. DOI:10.1016/S0001-4575(98)00007-4.
[2] Uhr A. Verkehrssicherheit von Velos und E-Bikes im Kreisel. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2022. Forschung 2.463. DOI:10.13100/BFU.2.463.01.2022.
[3] Walter E, Achermann Stürmer Y, Scaramuzza G et al. Fahrradverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2012. Sicherheitsdossier Nr. 08.
[4] Walter E, Cavegn M, Ewert U et al. Motorradverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2014. Sicherheitsdossier Nr. 12.
[5] Walter E, Achermann Stürmer Y, Scaramuzza G et al. Fussverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2013. Sicherheitsdossier Nr. 11.
[6] Ewert U. Sicherheit an Fussgängerstreifen: Auswirkungen einer gesetzlichen Neuregelung und begleitender Verkehrssicherheitskampagne. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 1999. Pilotstudie R 9904.
[7] Schweizer T, Thomas C, Regli P. Verhalten am Fussgängerstreifen: Forschungsprojekt zur Interaktion zwischen Fahrzeuglenkenden und FussgängerInnen – Methodische Hinweise und quantitative Analysen. Zürich: Fussverkehr Schweiz; 2009.
[8] Baumann D, Brucks W. Vortrittsmissachtung am Fussgängerstreifen. Strasse und Verkehr. 2020;(4-5): 31–37.